Von einer „Wolke von Zeugen“ umgeben zu sein, eine ziemlich merkwürdige Vorstellung

Predigt zum Palmsonntag, 28. März 2021 (Johannes Dübbelde)

Predigttext Hebräer 11,1-2.12,1-3: Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. 2 Durch diesen Glauben haben die Vorfahren Gottes Zeugnis empfangen. Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, 2 und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. 3 Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken laßt.

Liebe Gemeinde,

hattet Ihr schon mal irgendwann das Gefühl, von einer „Wolke von Zeugen“ umgeben zu sein?

Ich finde, das ist auf den ersten Blick eine ziemlich merkwürdige Vorstellung, nicht wahr?

Andererseits: Wir Menschen sind ja alle irgendwie geprägt von denen, die vor uns waren: Unseren Eltern zum Beispiel, unseren Geschwistern und Freunden und vielen anderen, die uns auf unserem Lebensweg bis hierher begegnet sind.

Je länger wir leben, desto mehr wird, so denke ich, erkennbar, dass wir alle geprägt sind von Menschen, die vor uns gewesen sind, die zum Teil noch leben, zum Teil aber auch schon lange nicht mehr leben – zumindest nicht in dieser Welt; und sie alle haben uns, die wir hier sitzen, irgendwie geprägt und zu dem gemacht, was wir heute sind. Auch dass wir jetzt hier in dieser Kirche sitzen, kann mit diesen Menschen und der Prägung, die wir durch sie erfahren haben, zusammenhängen.

Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, aber: Mein Glaube hat ganz viel zu tun mit Menschen, die mich im Laufe meines Lebens geprägt haben.

Ich hatte vier Großeltern, die alle gläubige Christen waren, und ich hatte auch Eltern, die es gewesen sind.

Im Laufe meines Theologiestudiums habe ich weitere Christen kennen gelernt, Theologieprofessoren und -professorinnen, Komilitoninnen und Kommililtonen, also Mitstudenten, Menschen verschiedener Couleur und verschiedenen Alters, Menschen aus Amerika, Frankreich und anderen Ländern, Menschen aus der DDR und aus Italien – eine „Wolke von Zeugen“, die mich immer noch umgibt.

Wie gesagt: Viele leben schon nicht mehr, aber sie sind immer noch lebendig in mir, präsent in meinem Leben.

Gelegentlich bekomme ich Besuch von meinem Cousin aus New York. Er ist genau so alt wie ich, Manager bei einer großen Kunstspedition in Manhatten. Wir treffen uns hin und wieder, zum Beispiel wenn er auf Geschäftsreise ist und verschiedene Museen in Deutschland abklappert.

Vor einigen Jahren wurde uns beiden klar, dass unser gemeinsamer Großvater für uns beide immer noch eine ganz wichtige und prägende Persönlichkeit ist, an die wir beide bis heute immer noch ziemlich oft denken.

Vor sechs oder sieben Jahren haben wir die persönliche Bibel unseres Großvaters, die bis dahin in meinem Besitz gewesen war und in einem Regal ein eher unbeachtetes Dasein gefristet hatte, zu unser gemeinsamen(!) Bibel erklärt.

Seither ist es so, dass wir uns, jedes mal, wenn wir uns treffen, diese Bibel auf’s neue gegenseitig schenken. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, kommt es zum Bibeltausch. Und zwar versehen mit einem Bibelwort, das der jeweils Schenkende für den anderen ausgesucht hat und ihm mitbringt. Auf diese Weise haben wir immer wieder das Gefühl, dass unser Großvater und sein Glaubenszeugnis immer noch bei uns ist und uns beflügelt.

Wir haben eine Wolke von Zeugen um uns, und das sind Menschen, von denen einige entschlafen sind, und einige noch leben.

Was wäre mein Glaube ohne die Menschen, die mich noch umgeben, und ohne die, die mich mal umgeben haben – und trotzdem immer noch irgendwie umgeben bzw. präsent sind in meinem Leben.

Dass ich heute hier in dieser Kirche bin und auf dieser Kanzel stehe hat viel mit diesen Menschen zu tun. Mit denen, die noch in dieser Welt leben, und mit denen, die in der anderen sind.

Von einem dieser Menschen möchte ich erzählen. Mein Großvater war 23 und Soldat, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Als er 51 war, bekam er noch mal einen Einberufungsbefehl, er musste als Oberinspektor bei der Reichsbahn dafür sorgen, dass die Zugtransporte nach Polen reibungslos funkionierten.

In seinen Briefen nach Hause bat er immer wieder darum, dass die Familie nicht nachlassen möge im Glauben und im Gebet.

Was das bedeutete, das wusste die Familie auch ohne dass er mehr schreiben musste. Für ihn, der schon 1939 gesagt hatte „wer die Juden angreift, der greift den Augapfel Gottes an“, war klar, dass es ein Gebet für die Juden sein musste.

Für die Menschen also, die in den Viehwaggons nach Auschwitz standen und lagen, die er organisatorisch begleiten musste.

Lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, vor allem die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist.

Das war kein leichtes Wort für ihn, kein Wort für die leichte Schulter.

Wo um alles in der Welt soll man denn hinlaufen, und was um alles in der Welt soll man denn tun, wenn die Schuld in einer so quälenden Weise drückt, weil man den Zug nach Osten einfach nicht aufhalten kann?

Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete .

Für meinen Großvater war klar, dass in den Viehwaggons nach Osten, die er begleiten musste, nicht nur Menschen saßen, Juden, sondern auch: Gott selbst, ein Jude.

90 nach Christus war die Situation in mancherlei Hinsicht eine andere.

Wer die Wissenschaft zu diesem Text befragt, der bekommt die Antwort, dass 90 nach Christus der Schwung der ersten Christen ein ganzes Stück weit erlahmt war, die ersten Väter und Mütter des Glaubens waren gestorben. Zu glauben, dass der vom Tode auferstandene Herr Jesus Christus real wiederkommen werde, fiel den Leuten schwer. Warum kommt er denn immer noch nicht wieder, so fragten sie.

Statt vom auferstandenen Herrn ins Himmelreich geholt zu werden wurden sie erst mal verfolgt, gequält und den Löwen zum Fraß vorgeworfen, weil der Kaiser Domitian Angst vor ihnen hatte. Und weil sie Menschen waren, die seinen absolutistischen Herrschaftsanspruch infrage stellten.

Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete.

Mehr als diesen Satz konnte der Verfasser des Hebräerbriefs seinen Zeitgenossen nicht als Trost mit auf den Weg geben. Aber dieser Satz hatte es in sich. Denn er besagte, dass nach der Zeit des Leidens und der Verzweiflung auch noch gesagt werden konnte, dass ER, Jesus, der Auferstandene, sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.

Mein Großvater war sich seiner Schuld bewusst. Seiner Schuld, die er auf sich geladen hatte, einfach dadurch, dass er da saß, wo er saß, nämlich im bequemeren Teil der Eisenbahn nach Osten, weil er nicht mehr tat als nur da zu sitzen, und, das allerdings auch, zu beten.

Lasst uns ablegen alles, was uns belastet, vor allem die Sünde, die uns ständig umstrickt, lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der sich nach allem Leiden zur rechten Gottes gesetzt hat.

Wie, wenn nicht so, kann man das Leben mit all seinen Zweifeln und Fragwürdigkeiten bestehen?

Eine Wolke von Zeugen? Ich glaube, dass sie uns alle umgibt, diese Wolke von Zeugen.

Abraham, Isaak und Jakob sind solche Zeugen, auch Josef und viele andere, wie zum Beispiel Paulus und die anderen Apostel, Martin Luther oder Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer oder Dorothee Sölle.

Aber da sind, Gott sei Dank, nicht nur die Promis im Glauben, sondern auch die anderen alle.

Zum Beispiel die, die neben mir sitzen, die ich sehe, und die ich doch nicht immer sehe. Meine Familie oder die Krankenschwester, die nicht nur den Puls abnimmt, sondern auch noch ein gutes Wort übrig hat, oder der Arbeitskollege, der einfach nur ein Mensch ist.

Oder der Freund, der sich an einer Stelle für Frieden und Gerechtigkeit einsetzt, an der ich es im Augenblick gerade nicht tue oder tun kann.

Eine Wolke von Zeugen umgibt uns, und das ist gut so. Denn „der Christus in meinem ist stärker als der Christus in mir“ (Bonhoeffer), und deshalb ist der Christus in meinem Mitmenschen in der Gemeinde auch meistens stärker als der Chrisus in mir.

Übrigens: Manchmal kann es passieren, dass man selber ein Teil dieser Wolke ist, ohne es zu wissen. Vor einigen Jahren fragte ich mal einen gläubigen Menschen aus unserer Gemeinde, wie er denn zum Glauben gekommen sei. Zu meinem Erstaunen antwortete er: Durch eine Predigt von dir. Das kann nicht sein, antwortete ich. Ich bin doch selbst nur ein Fragender. Aber so ist es es wohl manchmal. Gott macht uns zu Werkzeugen seines Willens. Zuweilen, ohne dass wir es wissen.

Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Wie macht man das?

Paul Gerhardt hat sich diese Frage gestellt. 1653, fünf Jahre nach dem Ende des 30 -jährigen Krieges, stellt er Jesus die folgende Frage, die er Jesus gleich im zweiten Satz selber zu beantworten bittet:

Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir, o aller Welt Verlangen, o meiner Seelen Zier? O Jesu, Jesu, setze mir selbst die Fackel bei, damit, was dich ergötze, mir kund und wissend sei.

Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken laßt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Johannes Dübbelde

Evangelisches Gesangbuch (EG) Nr. 11
1. Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir, o aller Welt Verlangen, o meiner Seelen Zier? O Jesu, Jesu, setze mir selbst die Fackel bei, damit, was dich ergötze, mir kund und wissend sei.

2. Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn. Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis und deinem Namen dienen, so gut es kann und weiß.

10. Er kommt zum Weltgerichte: zum Fluch dem, der ihm flucht, mit Gnad und süßem Lichte dem, der ihn liebt und sucht. Ach komm, ach komm, o Sonne, und hol uns allzumal zum ewgen Licht und Wonne in deinen Freudensaal.

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