Predigt am Karfreitag 2018 über Hebr 9,15.26b-28
Liebe Gemeinde!
Das Wort „Opfer“ hat in unseren Ohren keinen besonders guten Klang – es sei denn es bezeichnet den Held im Kino, der sich in einem Akt schier grenzenloser Selbstlosigkeit für andere, manchmal für die ganze Welt opfert.
Ansonsten ist das Wort „Opfer“ in unserer Gesellschaft sehr negativ besetzt: Sogar als Schimpfwort muss es inzwischen dienen, wenn auf dem Schulhof jemand mit der Bezeichnung: „Eh, du Opfer!“ herabgewürdigt werden soll.
Opfer sein, dass will man nicht – kein Mordopfer und auch ansonsten keins. Und erst recht nicht möchte man zum Opfer für etwas anderes gemacht werden, so wie es im Altertum noch war, wie wir es immer wieder auch aus dem Alten Testament erfahren. Zum Opfer werden für die Schuld anderer z.B., so wie der „Sündenbock“, der am altisraelitischen Versöhnungstag in die Wüste zum Dämon Asazel geschickt wurde – und alle Sünden des Volkes dabei mitnahm. Nein, ein Sündenbock möchte keiner gerne sein! Und aus diesem Grund tut sich zunehmend auch die Kirche schwer mit dem Begriff des Sündopfers Jesu, dem wir ja am Karfreitag gedenken, und mit Texten wie den Worten des Hebräerbriefes. In keinem neutestamentlichen Schriftwerk ist so deutlich davon die Rede, dass Jesus am Kreuz für unsere Schuld geopfert wurde, wie hier.
Doch wie gesagt: Das Wort Opfer ist in all seinen verschiedenen Bedeutungen aus der Mode gekommen – außer eben im Kino. Es ist nicht angesagt, und so möchte sich auch mancher in der Kirche hier dem Zeitgeist anpassen.
Mir persönlich passt das, ehrlich gesagt nicht. Ganz im Gegenteil möchte ich heute einmal die These aufstellen, dass gerade die Opfertat Jesu am Kreuz vielleicht das Entscheidende am Christentum ist im Vergleich zu anderen Religionen und Weltanschauungen und dass gerade diese Rede vom Opfer in all seinen Bedeutungsnuancen das Beste beschreibt, was wir als Kirche unserer Gesellschaft schenken können.
Es ist ja eben gerade nicht so, dass das Thema „Opfer sein“ oder zum „Opfer werden“ wirklich aus unserer Gesellschaft verschwunden ist. Klar: Wir mögen den Begriff nicht, und wir reden nicht gerne drüber. Aber wir müssen nur in die Nachrichten schauen oder uns in den sozialen Netzwerken bewegen, dann sehen wir sie sofort: Die Opfer!
Und ich rede jetzt ganz bewusst nicht von den Todes-Opfern, die wir tagtäglich in den schlimmen Fernsehberichten aus Syrien und anderswo zu sehen bekommen. Nein! Jetzt möchte ich einmal wirklich über die reden, die ganz im altertümlichen Sinne wieder zu Opfern für die Sünden anderer gemacht werden!
Es sind die vielen, die auf Facebook aufgrund ihrer Meinung, die sie offen und ehrlich aussprechen, öffentlich gebrandmarkt, gedemütigt und dann gekreuzigt werden; einfach um ein Exempel zu statuieren und weil man sich selbst in seiner eigenen Meinung ertappt fühlt.
Es sind die kleinen Ingenieure und das mittlere Management eines großen deutschen Autokonzerns, die zur Befriedung der öffentlichen Meinung vor den Kadi geschleppt werden, während man mutmaßlich davon ausgehen muss, dass es weiter oben noch ganz andere Beteiligte am Diesel-Skandal gibt.
Und es ist schließlich eine traditionsreiche politische Partei, die ihren Vorsitzenden zunächst mit einer 100-%-Abstimmung buchstäblich zum Messias kürt, um ihn ein paar Monate später für alle Fehler im Zusammenhang der großen Wahlniederlage verantwortlich zu machen.
Und bevor jetzt die einen „Hurra“ schreien, weil da einer endlich mal seine ehrliche Meinung sagt, oder die anderen „Bäh, was soll das denn“, weil ihnen das zu weit geht, ergänze ich noch: Das, was ich hier gesagt habe, gilt meiner Meinung nach auch für alle anderen Firmen, gesellschaftlichen Gruppen, Parteien – und selbstverständlich auch für das private Umfeld eines jeden einzelnen von uns. Wir lieben es, Menschen auf den Altären der Medien zu opfern oder als Sündenböcke in die Wüste zu schicken, weil es uns Menschen einfach angeboren ist und extrem beruhigt, dass andere für all die Unvollkommenheiten zur Haftung herangezogen werden, die auch uns selbst in unserem tiefsten Inneren ausmachen.
Und ich sage, dass nicht um uns klein zu machen, ganz im Gegenteil, sondern um endlich einmal einen ehrlichen Blick auf diese Welt und unsere Gesellschaft zu werfen – zumindest halte ich persönlich ihn dafür, aber das darf gerne nachher kritisiert werden. Denn nur ein möglichst ehrlicher Blick hilft dabei, in unserer Gesellschaft etwas positiv zu verändern – und helfen kann uns dabei das einzig legitime Opfer der gesamten Weltgeschichte, nämlich der gekreuzigte Jesus Christus!
Das Besondere daran ist zweierlei: Zum einen wird Jesus mitnichten von jemandem Fremden zum Opfer gezwungen: Nach dem Hebärerbrief ist es nämlich Jesus selbst, der sich als wahrer Hohepriester auch zum einzig legitimen Opfer für „viele“ macht. Der Hebräerbrief ist nicht immer ganz einfach zu verstehen, doch die Grundzüge sind gar nicht so schwer: Das ganze Buch beschreibt das Werk Jesu Christi in den Begriffen alttestamentlicher Priestersprache – und so kommt er zu der für uns zwar vielleicht absurd anmutenden aber eigentlich ganz logischen Konsequenz: Ja, Jesus war am Kreuz das Opfer für unsere Sünden, aber er ist es auch, welcher der wahre himmlische Priester ist, der es auf eigenen Entschluss hin an sich selbst vollzieht. Also: er wird nicht zum Opfertier gemacht, er entscheidet sich vielmehr selbst zu dieser Opfertat. So, wie so mancher Filmheld im Kino – oder auch der französische Gendarm vergangene Woche, der sich für Geiseln eintauschen ließ und so sein Leben verlor.
Das ist das Eine. Das andere aber ist, und das ist für uns heute sogar noch entscheidender: Jesus wird als einziges(!) wirkliches Opfer beschrieben. Das heißt: Es sind keine Opfer mehr nötig für unsere Schuld und all das, was wir falsch gemacht haben. Das ist zwar erst einmal ein theologischer Satz, der zunächst einfach begründet: Wir müssen im Gottesdienst keine Tiere mehr opfern, so, wie das früher in den Tempeln Israels und anderswo war.
Das heißt aber noch viel mehr: Es darf und muss, wenn wir das ernst nehmen, auch bei uns in unserer Gesellschaft keine Opfer mehr geben. Der Satz „Du Opfer!“ – ist nicht mehr! Jesus ist „Opfer“! Allein! Und so hält uns der Hebräerbrief einen Spiegel vor: Ihr müsst niemanden mehr zum Opfer machen, denn alle Schuld ist getilgt. Ja, Fehler werden immer noch gemacht, und sie werden auch weiterhin gemacht – in der Politik, der Wirtschaft und im ganz Persönlichen. Aber wir haben Opfer und Sündenböcke nicht mehr nötig. Denn alle Schuld ist durch Christus vergeben – die der anderen und auch die unsere. Fehler offenlegen, kritisieren und in Zukunft vermeiden, das ist gut. Aber wir müssen niemanden mehr zum Sündenbock erheben und vernichten.
Ob uns das gelingt? Wahrscheinlich nicht immer. Aber auch dann, wenn es uns nicht gelingt, dürfen wir erhobenen Hauptes durch die Welt gehen. Denn Jesu Opfer gilt ja auch dann. Was aber das Tollste an der ganzen Sache ist: Wir dürfen den Teufelskreis tatsächlich durchbrechen; wir dürfen offen zu unseren Fehlern stehen und müssen auch andere nicht darauf festnageln. Und immer dann, wenn uns das gelingt – wird ein Menschenleben nicht nur nicht zerstört. Nein. Immer dann haben wir auch einen Beitrag zu einer offenen Fehlerkultur geleistet, auf die inzwischen sogar manche Wirtschaftsunternehmen schwören: Da geht es nämlich inzwischen immer mehr um die Erkenntnis, dass ein offener und ehrlicher Umgang mit Fehlern und Missgriffen weiter führt als dass Missstände unter den Teppich gekehrt und halbherzig Sündenböcke gesucht werden. So kann sich nämlich wirklich was ändern und verbessern. Und das steigert langfristig den Erfolg.
Eine solche Fehlerkultur, liebe Gemeinde, gäbe es aber tatsächlich nicht ohne das Opfer am Kreuz und eine Kirche, die genau diese Botschaft bereit ist auszusprechen! Das ist unsere entscheidende Aufgabe in der Gesellschaft, glaube ich: nicht, dass wir als unvollkommene Moralagentur auftreten oder als Bewahrer eines kulturellen Erbes. Nein. Sondern dass wir wirklich allen Menschen ausrichten, dass ihnen in aller Unvollkommenheit, die das Menschsein so mit sich bringt, das ganze Heil bereits zugesprochen ist, dass es geben kann und wir alle erhobenen Hauptes durch diese Welt gehen können. In Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn.
Amen.
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Karfreitag, 30.03.2018
Prediger: Pfarrer Markus Risch