Andrea Sawatzki war mir bisher nur als Schauspielerin bekannt. Als ich hörte, dass Sie auch schriftstellerisch aktiv ist, machte mich das neugierig. So wurde ich auf ihr „autobiographisches“ Werk aufmerksam, welches ich Ihnen heute vorstellen möchte.
Andrea Sawatzki gehört „meiner“ Generation an. Sie ist 1963 geboren
Ihre Kindheits- und Jugendgeschichte wird von ihr in zwei Hälften aufgeteilt. Zunächst die bis zu ihrem achten und dann die bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr.
Bis zum Alter von acht Jahren wächst sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Was so aber auch nicht ganz stimmt, da aufgrund der erforderlichen Berufstätigkeit ihrer Mutter, die als Krankenschwester den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter verdienen muss, für Andrea Sawatzki verschiedene Menschen als Ersatzoma, Ersatztante usw. fungieren. Ohne dies groß zu thematisieren wird beim Lesen klar, wie schwierig es damals für eine alleinerziehende Mutter war, alles unter einen Hut zu bringen und sich und ihre Tochter nicht nur zu ernähren, sondern dem Kind auch eine möglichst schöne und unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Aber die Erzählung zeigt auch, wie Solidarität zwischen Frauen, Nachbarn und ArbeitskollegInnen damals funktionierte. Irgendwie gab es glücklicherweise oft jemanden, der für die Betreuung einsprang und zur Verfügung stand. Vielleicht war dies auch ein Symptom der nachschwingenden Erlebnisse des zweiten Weltkrieges, als Menschen darauf angewiesen waren, von Fremden unterstützt zu werden.
Ich habe dies als Kind selbst erfahren dürfen, als meine Mutter plötzlich ins Krankenhaus musste. Eine Nachbarin, die selber acht Kinder hatte, nahm mich ohne große Diskussion für die Zeit auf. Und dass, obwohl sie selbst knapp bei Kasse war. Ihr Spruch damals, der in meiner Kindheit zum geflügelten Wort wurde hieß: „wo zehn Mäuler satt werden, da wird auch ein elftes satt“.
Für Andrea Sawatzki sollte im Alter von acht Jahren eine neue, bessere Zeitrechnung beginnen. Die Zeit als „richtige“ Familie, nicht mehr allein mit ihrer Mutter, sondern mit dem leiblichen Vater. Dieser hatte nach dem Tod seiner ersten Frau Andrea Sawatzkis Mutter geheiratet und dem vormals in den ersten Lebensjahren ohne Vater aufgewachsenen Kind, nunmehr eine Familie beschert.
Aber wie so oft im Leben, die Realität passte dann doch nicht so ganz zu den Sehnsüchten und Erwartungen. Aus der Hoffnung nach einer Familie, in der die Mutter nun ganz bei ihrem Kind sein konnte, weil sie ja nicht mehr arbeiten musste, wird ein Sprung in eine andere, neue Realität, die die Sorgen und Entbehrungen eher noch verschärfte. Andrea Sawatzkis Kindheit mit der alleinerziehenden Mutter stellt sich im Vergleich zu später, als sorgenfreier und unbeschwerter dar.
Der Roman bietet einen tiefen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen der damaligen Zeit. Wer in dieser Zeit groß geworden ist, mag sich an manches erinnern und wer diese Zeit nur aus den Erzählungen seiner Eltern und Großeltern kennt, der wird hier einen zusätzlichen Einblick erhalten.
Ich möchte nicht zu viel verraten. Aber der Roman liest sich spannend wie ein Krimi. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.
Viel Freude beim Lesen und vielleicht auch Verschenken!
Marina Knieling
Andrea Sawatzki: Brunnenstrasse
PIPER Verlag
ISBN 978-3-492-07053-9 20,– Euro; 10,– Euro